Die bürgerliche Moderne – die Welt der Standards

Prof. Dr. Wolfgang Mühl-Benninghaus

Digitalisierung verändert in vielerlei Hinsicht sowohl die Produktionsabläufe als auch unseren Alltag. Insofern beginnt die Betrachtung mit einigen Bemerkungen zur Vergangenheit, mit dem Ziel, ein gemeinsames Grundverständnis des Woher sicherzustellen:

Im Ergebnis der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert bildeten sich vor allem in Westeuropa und den USA zunehmend bürgerliche Gesellschaften heraus. Ihre ökonomischen Grundlagen waren unter anderem das Recht auf Eigentum und die Ware-Geld-Beziehungen. Alle Waren konnten von nun an gegen das allgemeine Zahlungsmittel Geld eingetauscht werden. Aus dieser rationalen Beziehung erwuchsen, unterstützt durch die um sich greifende Industrialisierung, zunehmend verschiedenste Formen einer sozialen Logik des Allgemeinen und damit einer alle Lebensbereiche erfassenden Rationalisierung. Deren technische Seite umfasst alle Seiten der Produktion, des Verkehrs und der Warendistribution. Technische Rationalisierung zielt immer auf Effizienzsteigerung und bedingt daher eine permanente Verbesserung der Produktionsabläufe. Das Allgemeine sind in diesem Kontext die verschiedenen Formen der Standardisierung, die ihrerseits die Voraussetzung für Effizienzsteigerungen bilden. Diese Aussage bezieht sich sowohl auf das Mensch-Maschine-Verhältnis als auch das garantierte Hervorbringen des Gleichen, symbolisiert etwa in Form von Markenprodukten. Bereits am Anfang der 1930er Jahre gab es keinen wichtigen gesellschaftlichen Bereich der nicht standardisiert und damit auch formalisiert war. Markanter Ausdruck dessen war die von Henry Ford eingeführte Fließbandarbeit. Sie beschränkte auch die Handgriffe der Arbeiter auf wenige und steigerte damit die Produktivität erheblich. Seit den 1960er Jahren wurde die Fließbandarbeit zunehmend automatisiert ohne dass sich in der Grundstruktur der Produktion und Distribution etwas änderte.

Die technische Rationalisierung ist durch die kognitive und die normative zu ergänzen. Zu ersteren zählen primär die Wissenschaften, die mit Hilfe von Theorien allgemeingültige Beschreibungen und Erklärungen der Wirklichkeiten geben. Das hier gewonnene Wissen kann über die verschiedenen Bildungswege vermittelt und angeeignet werden. Den technischen wie den kognitiven Rationalisierungsformen ist ihre Permanenz in Bezug auf das Verallgemeinern gemein. Sie quantifizieren und messen permanent. Die auf diese Weise gewonnenen Ergebnisse dienen auf den verschiedenen Ebenen der Prozesssteuerung.

Die normative Rationalisierung hat die Gleichheit vor dem Gesetz und die Gleichartigkeit der Menschen in Bezug auf ihre Eigenverantwortlichkeit und im Hinblick auf die Befolgung vorgegebener Normen zur Voraussetzung. Soziale Interaktionen erscheinen auf diese Weise in den bürgerlichen Gesellschaften als berechenbar und permanent wiederholbar. Normative Rationalisierung bezieht sich auf alle menschlichen und sozialen Bereiche. Zur normativen Rationalisierung zählen neben dem eigenen Werte- und Normenhorizont der Bürgerlichkeit, die Ausdifferenzierung des Rechts, die Einführung einheitlicher Maße, die Normierung von Produkten aller Art einschließlich der Architektur, die Begrenzung der Arbeitszeiten, die Gestaltung der Löhne, die Bildungsabschlüsse usw. Die Welt der Standards und der selbstgesetzten Normen in der bürgerlichen Moderne bezog sich also auf alle menschlichen Lebensbereiche, wie u.a. auch auf die Ladenöffnungszeiten, die Mode, die Strukturen der Medienangebote oder auch auf die vielen staatlichen Vorschriften von der Steuererklärung bis zum Anrecht auf Sozialhilfe.

Die Folgen der Rationalisierungen, Standardisierungen und der daraus resultierenden Generalisierungen bildeten ein verhältnismäßig hohes Maß an transparenter Regelhaftigkeit. Daraus resultierte eine entsprechende Berechenbarkeit und Transparenz aller Lebensbereiche. Diesem Verständnis von Lebenswirklichkeiten hafteten stets universelle und überzeitliche Momente an. Diese scheiterten jedoch immer wieder an den kulturellen und nationalstaatlichen Grenzen. Trotz aller Begrenzungen entsprach dieser Logik eines in seinen jenseits der Familie, bei Freunden und Bekannten austauschaubaren Individuums. Das bedeutet, dass alle Handlungen und damit der gesamte soziale und ökonomische Bereich der Gesellschaft nie um ihrer selbst willen, sondern stets im Hinblick auf weitere Zwecke gedacht und interpretiert wurde. Zu letzteren zählten Effizienzsteigerung, Planbarkeit, Ausnutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse usw.

Die Grenzen dieses bürgerlichen Verständnisses des sozialen Lebens sind fast so alt wie dessen Ausprägungen. Als erstes sind sie in den Künsten seit der Romantik nachweisbar. Jenseits der staatlich geförderten, verstanden sich die Künstler stets als Kritiker von im weitesten Sinne zeitgleichen sozialen Verhältnissen. Weitere Protestgruppen waren die Boheme und die verschiedenen Jugendbewegungen, die sich vor allem um und nach 1900 formierten. Am deutlichsten und auch am stärksten wurde der Protest schließlich in den Protestbewegungen der 1960 Jahre und insbesondere 1968. All diesen Gegenbewegungen war gemein, dass sich ihre Anliegen primär gegen die Normierungen, Standardisierungen und damit auch den scheinbar übergeordneten Zwecksetzungen des sozialen Lebens wendeten. Die ökonomischen Verhältnisse blieben bei all diesen Bewegungen weitgehend unreflektiert.