Die Wertschöpfung in der Moderne
Prof. Dr. Wolfgang Mühl-Benninghaus
Die fundamentale Bedeutung der Kultur als Wert- und Ordnungsgefüge für die Moderne wurde im letzten Abschnitt skizziert. Wirtschaft ist ein wichtiger Erzeuger von Kultur und steht als solche im permanenten Wettstreit mit anderen diesbezüglichen Urhebern, etwa den Sozialwissenschaften, den Künsten, der Politik, des Rechts oder den Weltanschauungen. Sie alle sind keine – im Verständnis von Leibnitz – fensterlose Monaden. Vielmehr stehen sie in einem osmotischen Verhältnis zueinander und zusammen zu ihrer Umwelt. Die moderne Wirtschaft als Teil von Kultur findet ihre Besonderheit in der Ausrichtung ihrer Produkte am Markt. Dieser ist von den konkreten Lebensverhältnissen potentieller Käufer geprägt. Die Industrie entwickelte also in erster Linie Produktdesigns, die sich an den Lebensstilen und -vorstellungen potentieller Nutzer orientierten. Sie prägte damit deren Kultur. Der Markt entwickelte sich in diesem Kontext schon früh zu einem integralen Bestandteil von Öffentlichkeit. Die eingeschränkte Gestaltungsautonomie und die begrenzte ästhetische Vielfalt industrieller Produkte infolge ihrer strengen Limitierung innerhalb der Moderne verweist auf den erheblichen Einfluss der Ökonomie auf die Generierung der insgesamt begrenzten Lebensstile. Diese waren durch ein hohes Maß an Übereinstimmung in breiten Kreisen der Bevölkerung geprägt. Letztlich war die Ursache all dieser Begrenzungen die Produktion von Massengütern, die breite Bevölkerungsschichten einen gewissen Wohlstand sicherte und ihnen Produkte entsprechend ihrer Kaufkraft anbot. Die permanente Wechselwirkung zwischen Neuem und Bekannten bzw. Vertrautem bildete nicht nur die kommunikative Basis generell von sozialer Kommunikation, sondern auch die ökonomische Basis für ununterbrochene dynamische Veränderungen und rationales Wirtschaften Unter diesen Umständen garantierte in der Regel das Machbare auch den Erfolg.
Diesem ökonomischen Systematisierungs-, Standardisierungs- und Normierungsprozess entsprach eine Welt gleichberechtigter und voneinander eindeutig abgegrenzter industriell identisch verfertigter Güter, die jeweils in beliebiger Zahl existieren. Sie wurden von in ihren Strukturen klar definierten Unternehmen produziert. Dieser Prozess fand einen Ausdruck in der Wertschöpfungskette, wie sie von Porter in den 1980er Jahren entwickelt wurde. Ihr theoretischer und praktischer Wert besteht in Verdeutlichung der komplexen Wertschöpfungsaktivitäten. Das Modell betrachtet ein Unternehmen als eine Aneinanderreihung von grundlegenden Aktivitäten, die den Produkten oder Dienstleistungen einen Wert zufügen. Dabei wird zwischen primären und unterstützenden Aktivitäten unterschieden. Zu den primären zählen all jene, die unmittelbar mit der Produktion und Distribution im Zusammenhang stehen. Das bedeutet, sie erfasst und lokalisiert alle Prozesse von der Eingangslogistik über die Fertigung, den Vertrieb bis zum Kundenservice und der Distributionslogistik. Zu den unterstützenden Aktivitäten zählen die Verwaltung und das Management, das Personalwesen, die Technik und die Beschaffung. Alle unterstützenden Aktivitäten beziehen sich jeweils auf die gesamte Wertschöpfungskette. Mit Hilfe von Wertschöpfungsketten können also die einzelnen Verfahrensschritte und die mit ihnen verbundenen Aktivitäten sowie die Ablauforganisation herausgearbeitet werden. Sie dient im Unternehmen dazu, vorhandene Wertschöpfungsaktivitäten auf eine Gesamtstrategie auszurichten. Schließlich können die Wertschöpfungsketten mit denen von Partnern einschließlich Lieferanten und Großhändler verknüpft werden. Auf diese Weise können nicht nur Aktivitäten identifiziert, sondern auch Kooperationen diskutiert und eventuelle Neuausrichtungen zur Aufgabenerfüllung gefunden werden.
Da die jeweilige Kette sowohl Lieferanten als auch Kunden – also neben der Produktion auch die Distribution in den Blick nimmt – können mit ihrer Hilfe wettbewerbliche Frage analysiert werden und die Effizienz steigende Potenziale aufgedeckt werden. Dies bedeutet, dass mit Hilfe der Wertschöpfungsketten das gesamte Prozessmanagement sowohl in seinen strategischen als auch in seinen operationalen Aspekten untersucht und abgebildet werden kann. Insofern ist die Wertschöpfungskette auch ein ausgezeichnetes Mittel für sämtliche Aufgaben des Controllings und erlaubt, die Positionierung des Unternehmens zwischen Rohstoffgewinnung und Endkunden vorzunehmen. Das bedeutet, die Moderne ist gekennzeichnet durch rationale und überschaubare im Sinne abgegrenzten Formen der Produktion und Dienstleistungsangebote.
Die Formalisierung von Produktion und Distribution, wie sie in der Wertschöpfungskette zum Ausdruck kommt, impliziert zum einen deren Normativität und Berechenbarkeit in Bezug auf die Abläufe, zum zweiten ein hohes Maß an Effizienz, zum dritten eine genaue qualitative Einordnung der beteiligten Individuen, etwa auf Grundlage von Bildungsabschlüssen, sowie eine Quantifizierbarkeit des Produzierten. Das bedeutet auch: Berechenbarkeit, ein hohes Maß an Transparenz und Ordnung der Arbeitsabläufe und ihre Bewertung. Zum vierten ergibt sich aus der Versachlichung der Abläufe, dass die in die Prozesse eingebundenen Personen auf ihre Funktionen sowohl innerhalb von Teams bzw. anderen Organisationsformen als auch in der Mensch-Maschine-Kopplung reduziert werden. Die beteiligten Individuen, deren soziales Ambiente jenseits der Arbeitsprozesse weitgehend außen vor bleibt, sind auf diese Weise austauschbar. Fünftens, da die Wertschöpfungsketten der Unternehmen sich im Wesentlichen gleichen, sind die Unternehmen letztlich alle nach den gleichen Kriterien bewertbar, rationalisierbar und prüfbar. Darauf verweist nicht zuletzt die nach mehr oder weniger einheitlichen Prinzipien schon im 19. Jahrhundert entwickelte betriebliche Rechnungsführung und das in den 1960er Jahren unter Einfluss der USA auch in Deutschland eingeführte Controlling. Die Notwendigkeit zu letzterem ergab sich neben einer zunehmenden Bedeutung des Informationsbedarfs und der Preisgestaltung auch aus einer zunehmenden Diversifizierung der Produkte, die ihrerseits auf die sich zunehmend ausdifferenzierenden Kundenwünsche reagierten.