Kommunikation in Raum und Zeit

Prof. Dr. Wolfgang Mühl-Benninghaus

Die aktuelle Pandemie verleiht der digitalen Kommunikation einen erheblichen Schub. Gespräche, Meetings, Schulunterricht, Vorlesungen, Tagungen usw. alles läuft über verschiedene Plattformen und damit auf der gewünschten Distanz. Es werden Inhalte wie bisher ausgetauscht und dennoch bleibt bei den Beteiligten oft ein mehr oder weniger diffuses Unwohlsein. Die Lebensformen in der Welt von Handys, Laptops und Suchmaschinen empfinden Beteiligten als bisher unbekannte emotionale Distanz, mit der Folge von Kälte, Isolierung und Einsamkeit und nicht zuletzt den Ausschluss all jener, die sich dieser Techniken nicht bedienen können oder wollen. Die Kommunikation im Netz reduziert offensichtlich die face to face geführte.

Gegenwärtig ermöglicht die digitale Technik eine Hyperkommunikation mittels mehr Freiheiten sich zu informieren, zu unterhalten, zu bilden, miteinander in Kontakt zu treten oder einzukaufen. Sie bringt uns mehr Kontingenz und Komplexität in den Alltag mit seinen zu erledigenden Aufgaben. Demgegenüber fehlen die unmittelbare körperliche Präsenz, die Gespräche am Rande, das Heraustreten aus der vorgegebenen Umgebung, die Umarmung, das Riechen oder einfach die Wärme des Anderen. Die von der digitalen Avantgarde prophezeite vermehrte Teilnahme an öffentlichen Debatten erfüllte sich nicht. Offen bleiben vielfach Fragen wie, welcher Raum repräsentiert im digitalen Umfeld noch Öffentlichkeit oder wo ist im Privaten der gemeinsame Erlebnisraum? Wo spüre man im weitesten Sinne die eigene Kultur oder die des Gegenübers? Im unbegrenzten Raum digitaler Kommunikation fehlt offensichtlich die Verankerung durch räumliche Begrenztheit.

In alles historisch unterschiedlichen Kulturentstehungslehren und Religionen bedeutet Menschsein, miteinander zu kommunizieren. In der Menschheitsgeschichte waren der gemeinsame Raum und die gemeinschaftliche verbrachte Zeit über Jahrtausende konstitutiv für die Aneignung von Welt. Kommunikation als Verstehensprozess war und ist im Verständnis der Differenz von Mitteilung und Information die Selektion aus einem Horizont von vorfindlichen Möglichkeiten. Anders ausgedrückt: Beginnend im Mutterleib bis zum Tod ist der Mensch das Resultat kommunizierender Kräfte, Verbindungen, Verständigungen, Vermittlungen usw.. Der Mensch steht also nicht irgendwo, sondern immer an dem Ort, an dem Selbst- und Fremdbestimmung zu einem bestimmten Zeitpunkt zusammenfallen und mit unterschiedlicher Kraft auf ihn einwirken.

Menschliche Geschichte ist durch eine zunehmende Ökonomisierung von Kommunikation gekennzeichnet. Die Glocken rufen die Gläubigen zum Gebet und ersparen damit dem Geistlichen seine Predigt jedem einzeln vorzutragen. Der Kaufmann nutzt den an Zeit und Ort gebundenen Markt, um nicht jeden potentiellen Käufer einzeln aufsuchen zu müssen. Das vornehme Publikum nutzte seinerseits den Markt und die Gotteshäuser, um sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Geschichte von Buch, Presse, Radio und Fernsehen zeigen, dass die Gesellschaften immer mehr investierten, um auf Dauer mit geringeren Kosten möglichst große Gruppen von Menschen mit den für wichtig gehaltenen Inhalten zu erreichen. Die unmittelbaren Erlebnisse alltäglichen Lebens mit all seinen sozialen, intellektuellen und sinnlichen Verwicklungen, die für die Inhalte der face-to-face-Kommunikation typisch sind, wurden mittels der jeweils neuen Medien ergänzt durch das Erschließen erweiterter Horizonte. Dabei wurde die bisherige inhaltliche Komplexität der oralen Kommunikation segmentiert sowie zeitlich und räumlich in den jeweiligen Programmen fest verankert. Die jeweiligen Inhalte sind damit ritualisiert also von Wichtigkeit. Die Rezipienten waren gezwungen, wenn sie partizipieren wollten, ihren Tagesplan entsprechend einzuteilen. Für die Rezeption der medial vorgegeben Themen war darüber hinaus, die eigne Sprache und Stimme, die Gestik, das Verhalten, das Auftreten oder die Mimik also alles, was die eigene Konditionierung sowie Sozialisierung ausmacht und damit die Selbstbestimmung prägt, bedeutungslos. Mediale Entwicklung jenseits der Technik bedeutete im 20. Jahrhundert zugleich, dass die Informationen auf Kosten ihrer Zusammenhänge kürzer wurden. Gleiches gilt für die Dramaturgie, die Schnitte, die Moderation usw.. Der seitenlange Brief, wie sie ein Ludwig Börne und ein Heinrich Heine im 19. Jahrhundert aus Paris schrieben, gehören ebenso der Vergangenheit an, wie etwa die 1947 ausgestrahlte vierstündige Hörspielfassung des Dramas von Karl Kraus „Die letzten Tage der Menschheit“.

Die medial vermittelten Inhalte waren und sind stets Abstraktionen und Selektionen der Welt in ihrer lebendigen Gestalt. Aktualität ist das übliche mediale Mittel, um Interesse zu erzeugen und zu halten. Dieses Prinzip bedeutet eine scheinbar permanente Veränderung der Inhalte, selbst wenn immer das Gleiche präsentiert wird. Der selbstbestimmte Rezipient hat kaum Möglichkeiten, auf das Angebot zu reagieren. Ihm bleiben nur, Interesse oder Desinteresse zu zeigen sowie das Hinterfragen und damit das mögliche Relativieren der Inhalte. Lediglich über die Verkaufszahlen und die Einschaltquoten sind die Inhalte von Printerzeugnissen oder elektronischer Medien rezipientenseitig zu beeinflussen.

Die digitale Kommunikation ist nicht nur auf Konsumtion bzw. Rezeption, sondern wie die orale auch auf gegenseitigen Austausch angelegt. Raum und Zeit verlieren hier ihre ehemalige Bedeutung, denn nicht nur alle Beteiligten, sondern auch alle Inhalte sind mittels der notwendigen Technik überall und jeder Zeit erreichbar. Die Inhalte können, wie die der elektronischen Medien, beliebig rezipiert werden. Ihr Zugewinn besteht jedoch in den Austauschmöglichkeiten, die sie von den Überkommenen unterscheiden. In der digitalen oralen Kommunikation werden die anthropologischen Ebenen Sprache Stimme Gestik, Mimik usw. mit übertragen, sie sind aber über die Kamera oft nur abstrakt fassbar. Die Möglichkeiten vielfältigen Interagierens, wie sie in realen Räumen möglich sind, schwinden zwischen den zusammengeschalteten Teilnehmern. Körperliche Nähe, die auch andere Sinne wie das Haptische oder den Geruchssinn anspricht, entfällt. Die bei Meetings üblichen Gespräche am Rande unterbleiben ebenso wie gemeinsames Essen und Trinken. Diese Verluste erschweren persönliches Netzwerken, das primär face-to-face stattfindet. Diese Reduktionen erhöhen zwar die Effektivität von digital übertragenen Gesprächen bzw. Meetings, wirken aber, weil sie keinen oder kaum Platz für einen Emotional Mind haben, nur im beschränkten Umfang vertrauensbildend. Der Grund hierfür ist, dass die Kommunikation im Netz weitgehend vom dem durch den realen Raum erzeugten Zusammenspiel gemeinsamer sozialer, intellektueller und sinnlicher Erfahrungen als grundlegende Komponenten für das Entstehen von Vertrauen abstrahiert. Dieses ist aber vielfach entscheidend für das Entstehen verschiedenster Kooperationsformen bis hin zum Abschließen von Verträgen.