Krisenkommunikation im digitalen Zeitalter

Prof. Dr. Wolfgang Mühl-Benninghaus

Mit Beginn der Moderne entwickelten sich Krisen zunehmend vom Ausnahme- zum Normalzustand. Sie wurden zunehmend Bestandteil und Ausdruck menschlichen Zusammenlebens, in dessen Verlauf vormoderne Sicherheiten obsolet geworden sind. Mit dem zeitgleichen sprunghaften Anstieg medialer Angebote verringerten sich die realen Erfahrungen des Einzelnen zu Gunsten medialer wirklichkeitskonstituierender Medienangebote, deren informativen und fiktionalen Inhalte auf die jeweils eigenen Realitätserfahrungen einwirken. Die Folge sind Veränderungen in den Öffentlichkeiten, neue Formen der Meinungsbildung und -artikulation und ein nach variablen Kriterien der Selektivität operierendes Informationsverhalten. Jüngste Beispiele sind die Queer-Debatten oder die um die Flüchtlinge, die beide zunehmend Auswirkungen zumindest für die HR-Abteilungen von Unternehmen haben können. Im Zuge des Überangebotes medialer Inhalte wurde das Auswahlverhalten selbst Gegenstand von Auswahl. Um das Publikum am jeweils eigenen Kanal zu halten, provozieren mediale Inhalte je nach Zielgruppe unterschiedlichste Gefühlsbewegungen. In diesem Kontext kommt der Krisenberichterstattung, die oft emotionalisiert, besondere Bedeutung zu.

Die Industriegesellschaften des 19. und 20 Jahrhunderts definierten sich über ihren permanenten berechenbaren und planbaren Fortschritt, der selbst in Bezug auf Extremsituationen und trotz zeitweiliger Unberechenbarkeiten planbar und damit übersehbar war. Letztlich wurde auf allen Entscheidungsebenen nach Formen des Gleichgewichts gesucht und in allen wichtigen Punkten auch gefunden. Krisen waren deshalb mehr oder weniger Störungen dieses Gleichgewichts. Zwar gab es, wie bei jeder Krise Gewinner und Verlierer, aber am Ende wurden die unterschiedlichen Interessen von selbst oder mittels verschiedener Steuerungsmechanismen wieder ausbalanciert und die Ausgewogenheit damit insgesamt wieder hergestellt.

Staaten wie Unternehmen erzeugen sich auch durch Kommunikation. Von daher beginnt auch der Verlauf aller vergangenen und gegenwärtigen Krisen mittels Kommunikation über das jeweilige Geschehen. Wenn über einen Vorfall nicht regelmäßig kommuniziert wird, entsteht keine Krise. Diesbezüglich sehr bekannte historische Beispiele waren die Spiegel-Affäre, der Meineid von Uwe Barschel oder die Dünnsäureverklappung in der Nordsee. Auch jüngere Beispiele zeigen den Zusammenhang: Die spätestens seit den Publikation des Club of Rome am Ende der 1960er Jahre bekannte Klimakrise hat durch den Schulstreik eines schwedischen Mädchen einen erheblich breiteren Raum in der öffentlichen Wahrnehmung genommen; die Neubewertung des Diesels nach vergeblichen Einsprüchen Deutsche Umwelthilfe weitete sich nach Berichten von unabhängigen Abgasmessungen zur Krise aus; die Krise der EU wurde offensichtlich, durch das Krisenmanagement in Bezug auf das überschuldete Griechenland und fehlende Entscheidungen in vielen Fragen, weil keine Einstimmigkeit erzielt wurde.

Vor allem die genannten Umweltskandale verdeutlichen, dass das jeweilige Management Anliegen von Anspruchsgruppen ignorierte. Es unterschätzte damit die Möglichkeiten eines Skandalierens vorenthaltener Informationen bzw. Themen. Damit vergaben sich die Verantwortlichen aller Möglichkeiten, mittels Frühaufklärung die jeweilige Krise zu verhindern oder zumindest zu beeinflussen. Da Krisen mittels Kommunikation entstehen und nur mit ihr gelöst werden können, konstituiert sie deren Verlauf substanziell. Im Rahmen dessen sichert die ständig wiederholte Thematisierung in der medialen Berichterstattung die notwendige Anschlusskommunikation für breite Teile des Publikums, die schließlich auch kompliziertere Sachverhalte verstehen. Dabei bestimmen die inhaltliche Gestaltung der Beiträge zunehmend auch die Krisenverläufe. Die Dramaturgie der Berichterstattung – zu der auch Gerüchte im Unternehmen zählen – vermittelt also zwischen den beteiligten Parteien. Infolge der häufigen Wiederholungen entsteht Anschlusskommunikation auf Seiten der Rezipienten und bringt damit die (vermeintlichen) Erwartungen der Zuschauer zur Lösung der Krise zum Tragen. Krisen sind also immer mehr oder weniger große Erzählungen verbunden mit Kassandrarufen und nicht selten auch absurden Theorien. Alle diese Komponenten bestimmen im Krisenverlauf zunehmend die Handlungsspielräume der unmittelbar Beteiligten.

Strukturell verbindet Krisensituationen und alle Entscheidungen, so Arlt und Schulz, das Handeln unter Bedingungen von Ungewissheiten. In beiden Fällen ist man jeweils mit dem Fortsetzen des Gewohnten und mit dem Wiederholen des Gleichen an Grenzen gestoßen. Insofern zwingen beide zur Reflexion des Eigenen und können den Blick auf differenzierte Erwartungshaltungen und Vorhaben öffnen. Diese Situationen nehmen zu, weil sich unsere Gesellschaft in all ihren Bereichen permanent verändert und damit auch die Formulierung von Zielen nur noch über kurze zeitliche Distanzen sinnvoll ist. Aus dieser Konstellation resultiert ein Handlungsdruck bei gleichzeitigem Mangel an Wissen, den die permanenten Veränderungen erzeugen. Gemeinsam ist Krisen und Entscheidungen des Weiteren, der Streit im Management, wer die Verantwortung, wer die Risiken und Folgen von Fehlentscheidungen und damit auch das Entstehen von Krisen zu tragen hat. Krisen und (Fehl-)Entscheidungen sind in beiden Fällen markante Beispiele dafür, wie Kommunikation eigenständige Wirklichkeiten konstituiert, die mit der Informationsübertragung oft wenig gemein hat. Diesen Zusammenhang stellte bereits Clausewitz am Beginn des 19. Jahrhunderts fest: „Die meisten Nachrichten sind falsch, und die Furchtsamkeit der Menschen wird zur neuen Kraft der Lüge und Unwahrheit. In der Regel ist jeder geneigt, das Schlimme eher zu glauben als das Gute“ Die Gründe für diesen Sachverhalt liegen überwiegend in der menschlichen Wahrnehmung. Darauf wies bereits Protagoras im 5. Jahrhundert v. Chr. hin: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden das sie sind und der Nichtseienden, dass sie nicht sind“. Der Mensch kann nur wahrnehmen und nicht falschwahrnehmen. Dazu heißt es bei Platon, dass man einem Kranken, der den Honig als bitter empfindet, noch so oft sagen könne, dass der Honig süß sei, für ihn ist er bitter. Es sind also stets die Anderen, die behaupten, die Eigenwahrnehmung sei falsch. Schließlich können Dritte sowohl bei Krisen als auch bei Entscheidungen eine unterschiedliche Stellung zum Vorgefallenen beziehen. Der Unterschied zwischen beiden besteht im zeitlichen Ablauf. Krisen, also auftretende Gefährdungen von bestehenden Systemen oder Werten, treten in der Regel für die Beteiligten und die Öffentlichkeit plötzlich auf, während Entscheidungen in der Regel thematisch über einen längeren Zeitraum vorbereitet werden und damit unterschiedliche Gesichtspunkte berücksichtigen können. Der Kommunikation kommt somit auch im Entscheidungsprozess eine wesentliche Funktion zu. Entscheidungen als Auswahl verschiedener Möglichkeiten verstanden, ist daher immer eine Chance, miteinander ins Gespräch zu kommen und zu bleiben.

Im Zuge des Übergangs zur digitalen Gesellschaft wandelten sich die sozialen Selbstinterpretationen. Der am Ende der Industriegesellschaft abgeflaute Fortschrittsoptimismus erhielt durch die Möglichkeiten der neuen Technologien frische Nahrung. Die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten verheißen unbegrenzte Möglichkeiten. Und damit auch eine Zunahme der Krisenberichterstattung. Krisen sind jetzt nicht nur das Resultat von Fehlentscheidungen, Unterlassungen oder Betrügereien. Im Ergebnis einer sich in ständiger Veränderung befindlichen Gesellschaft – mehr denn je gilt: wer rastet, der rostet – wird zunehmend auch als Krise kommuniziert, wenn die erwarteten Erfolge und damit der Weg nach oben ausbleiben. Dies gilt in allen Bereichen der Gesellschaft. Einen Sportler kann die Zuschreibung einer Krise ebenso treffen wie ein Unternehmen, das keine unerwartete Rendite erzielt oder Politiker, die nicht die gewünschten oder erhofften Resultate erzielen. Krisen und die damit verbundene Imageschädigung wird offensichtlich in der gegenwärtig auf Progress getrimmten Gesellschaft zum Thema solange die gewünschten Erfolge ausbleiben bzw. sich neue einstellen. Die mediale Dramatisierung von Krisen beruht also zunehmend auf Zuschreibungen vor dem Hintergrund einer zumindest massenmedial am Gewinn und am Aufstieg bzw. Erfolg orientierten Gesellschaft. Vor dem Hintergrund fallender Auflagen und geringerer Einschaltquoten erhoffen sich offensichtlich vor allem die klassischen Medien auf diese Weise Rezipienten halten zu können und ihre Klickraten im Netz zu erhöhen. Diese Annahme resultiert aus der Eigenart jeder Krise. Wie Luhmann und andere betonen, zielen die beteiligten Parteien in der Krise nicht auf Verständigung und Eintracht. Es sind immer die Gegensätzlichkeit, das Durchsetzen eigener Interessen, die die Anspruchsgruppen miteinander verbindet. Darüber hinaus besteht mit jeder Krise auch die Möglichkeit, Themen zu setzen, die Sicherheit auf See nach Schiffsunglücken, eine Vielzahl von Aspekten der medizinischen Versorgung während der Pandemie usw.

Die Substitution klassischer Medien durch die Rezeption sozialer Medien verdeutlichte in Form des breitgefächerte Meinungsspektrum stärker als in der Vergangenheit die Folgen unterschiedlicher Wahrnehmung und den daraus resultierenden Beurteilungen. Zugleich wandelten sich die Selektionskriterien. In der Vergangenheit bestimmten ausschließlich die jeweiligen Redaktionen über die Verbreitung und die Darstellung von Inhalten. Deren Auswahl orientierte sich an den wirklichen oder vermuteten Interessen und Bedürfnissen der jeweiligen Zielgruppen. In sozialen Netzwerken sind es die User selbst, die mittels Likes, Shares, Comments usw. und des sich aus diesen Daten speisende Algorithmus entscheiden, welche Relevanz die jeweilige Nachricht für sie hat und an welche Diskurse in der Gesellschaft bzw. der jeweiligen Gruppe sie anschließt. Dieses System ermöglicht spezifischen Gruppeninteressen stärkere Geltung zu verleihen. Ähnliche Probleme poppen bei Bewertungsportalen auf. Auch hier finden sich zum Teil extreme Meinungsunterschiede, weil oft nur jene bewerten, die von der Qualität der Dienstleistungen des Unternehmens entweder angenehm überrascht oder enttäuscht sind. Die Zufriedenen bilden meist eine Minderheit. Im Unterschied zur face-to-face-Kommunikation erlaubt die digitale dem Einzelnen schließlich auch nicht zu kommunizieren. 

Um Krisen zu verhindern bedarf es vor allem der Schärfung der Wahrnehmungsfähigkeit für Risiko und Krise. Diese Fähigkeit setzt ein Abschiednehmen von überkommenen Gewohnheiten und normativen Setzungen, die das eigene Verhalten (scheinbar) legitimieren voraus. Dieser Aspekt schließt auch die Erlaubnis, Fehler zu machen und sie einzugestehen, ein. Durch die Ignoranz dieses Aspektes gehen Wissen sowie kommunikative Fähigkeiten verloren. Der ökonomische Schaden, der mittels mangelnder Fehleranalyse entsteht, ist hoch, weil die Wahrnehmungsfähigkeit nach innen und außen sinkt und darüber hinaus nicht nur Kenntnisse brach liegen, sondern auch gemachte Fehler sich ständig wiederholen. Insofern ist auch eine institutionalisierte Fehlerkultur ein weiteres Element im Frühwarnsystem von Krisen. Normativer Leitungsmethoden sind also entscheidende Risikofaktoren für das Entstehen von Krisen. Andererseits sind Krisen immer auch – das machen auch die viele Zuschreibungen von Krisen in der Gegenwart deutlich – unabdingbare Elemente von Veränderung. Insofern sind Krisen ein Teil und Spiegel des gesellschaftlichen Selbstverständnisses seit Beginn der Moderne und werden uns auch in Zukunft begleiten.