Märkte sind Gespräche
Prof. Dr. Wolfgang Mühl-Benninghaus
Jeder von uns hat auf Märkten eingekauft, hat über die Qualität und die Preise der angebotenen Waren diskutiert oder sogar gefeilscht. Wir kennen die Bilder von verschiedensten Märkten in aller Welt und zu allen Zeiten. Sie alle haben die Gespräche zwischen Käufer und Verkäufer gemeinsam. Seit jeher passen alle Märkte ihre Angebote den potentiellen Käufern an. Dennoch haben wir auf den Marktplätzen in der Regel nicht das Gefühl als Zielgruppe, als Konsumenten oder Endverbraucher behandelt zu werden. Es sind die Gespräche mit den Verkäufern und anderen Kunden, die diesem Eindruck entgegenstehen und die neben dem vorhandenen Warenangebot unser Kaufverhalten beeinflussen.
Der durch die Industrialisierung erzeugte Angebots- bzw. Massenmarkt bestimmte über Jahrzehnte das Selbstverständnis der Verkäufer und beschränkte die Wahlmöglichkeiten der Käufer. Am Ende der 1990er Jahre begann das Internet, sich zum Marktplatz von Telekommunikations- und Informationsdiensten sowie als Aktionsplattform auch für Waren und sonstige Dienstleistungen zu entwickeln. Mit Klicks, Likes, ersten Kommentaren usw. reagierten Rezipienten und Käufer auf die Angebote und den Service. Sie gaben damit eine erste unmittelbare und für Interessenten nachvollziehbare Antwort auf die Warenauswahl, deren Qualität und den mit ihr verbundenen Dienstleistungen. Die digitalen Gesprächsmöglichkeiten egalisierten die Bewertungskompetenzen weniger Spezialisten im Industriezeitalter und begannen mit ihren Fakten über Produkte und Serviceleistungen die bisherigen Überredungskonzepte von Vertriebsmitarbeiter zu unterlaufen.
Im Verlauf der letzten 20 Jahre drängten im Zuge der Globalisierung zunehmend mehr Verkäufer auf die Märkte, auf denen teilweise ein Überangebot an Waren zu finden ist. Über digitale Kommunikations- und Interaktionswerkzeuge wie Sozial Media oder andere Plattformen entstanden weitgehend unbegrenzte Möglichkeiten, zu geringen Kosten intensive kommunikative Beziehungen zu gestalten und zu pflegen. Zeitlich parallel bildete sich mit der Digitalisierung eine neue Mittelklasse heraus. Insbesondere diese neuen Kreativen beförderten einen Prozess der Singularisierung und Kulturalisierung von Lebensstilen. Neben einem kleiner werdenden Massenmarkt entstanden im Zuge dessen in einem noch nicht abgeschlossenen Prozess verschiedenste Nischen-, segmentierte oder diversifizierte Märkte – der relativ übersichtliche Verkäufermarkt wandelte sich zu sich ständig verändernden Käufermärkten. Auf diesen gibt immer weniger der Anbieter vor, was der Kunde als Teil einer großen Zielgruppe zu kaufen hat. Stattdessen gewinnt der Werbespruch von IKEA „Wealth is realize your ideas“ für alle Branchen und Unternehmen an wachsender Bedeutung.
Für die Weiterentwicklung von nachgefragten Produkten werden vor allem von Konsumenten erzeugte Virtualitäten, die kaum zu steuern sind, immer wichtiger. Für Entscheider kommt es darauf an, auf die sich hier erkennbaren nichtlinearen Veränderungen rechtzeitig mittels der Steuerung kurzfristiger Unternehmensabläufe zu reagieren. Eine wesentliche Basis für den Businesserfolg ist deshalb das unablässige Verfolgen und eine ständige Beteiligung an der jeweils aktuellen Kommunikation potentieller Käufergruppen in allen zur Verfügung stehenden – also auch in nicht digitalen – Netzen. In den sich dort herausbildenden Netzwerken werden neue Zukünfte außerhalb bestehender Räume erfunden. Diese werden stets intellektuell, kulturell und emotional definiert. Potentielle Kunden müssen also ganzheitlich mit einem Vor- und Nachleben und nicht nur als momentaner Teil einer Zielgruppe wahrgenommen und behandelt werden.
Da die bisherigen dem Industriezeitalter entnommenen Kommunikationsformen zwischen Anbieter und Nachfrager dem veränderten Kundenverhalten immer weniger entsprechen und deshalb immer weniger funktionieren, müssen Unternehmen auf die neuen Herausforderungen auf die doppelte Art reagieren. Sie sind gezwungen, permanent mit dem potentiellen Kundenkreis in kommunikativen Beziehungen zu bleiben, um auf dessen gleichbleibenden und sich verändernden Wünsche und Bedürfnisse rechtzeitig reagieren zu können. Gleichzeitig sollten sie verstärkt intellektuelle Beziehungen zu ihren Kunden aufbauen, um ihnen gegebenenfalls auch Produkte und Dienstleistungen anbieten zu können, die sie in Auswertung von Gesprächen, Bildern usw. neu entwickelt haben und für deshalb aktuell noch keine Nachfrage besteht. Je besser es gelingt beide Beziehungsebenen mit einander zu verknüpfen, je stärker sie ausgeprägt sind, je dynamischer das eigene Wertschöpfungsnetzwerk ist, also je stabiler das eigene Ecosystem ist, desto geringer sind die Bedrohungen durch die Markteintritte neuer Konkurrenten, durch Ersatzprodukte durch Mitbewerber und die Rivalität unter den Mitbewerbern. Zugleich erwächst aus einem stabilen und zugleich anpassungsfähigen Ecosystem die Verhandlungsstärke des eigenen Unternehmens gegenüber Lieferanten und natürlich gegenüber den Kunden.
Gespräche auf Augenhöhe in allen Formen und mit allen zur Verfügung stehenden Kommunikationsmitteln bilden demnach in einer von singulären Bedürfnissen geprägten Gesellschaft eine grundlegende Basis für das Bestehen und einer potentiellen Entwicklung auf den sich immer weiter ausdifferenzierenden Märkten.